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Trotz ihrer biologischen Unzulänglichkeiten sehen Menschen immerzu Dinge, die unsere kompliziertesten Sensoren nicht entdecken können, und verstehen seltsame Konzeptionen, die ein Gelschaltkreis-Geist nicht nachvollziehen kann. Daher ist es kein Wunder, dass so viele von ihnen wahnsinnig werden.
Erasmus-Dialoge
Die Pattsituation, die seit nunmehr zwei Jahrzehnten über dem Himmel von Corrin zwischen der Roboterflotte und den Hrethgir-Kriegsschiffen herrschte, die es auf Omnius' Ausmerzung abgesehen hatten, war längst kein spannendes Thema mehr. Viel stärker interessierte Erasmus mittlerweile ein kleines Drama, das sich in seinen Gartenanlagen abspielte.
Komplizierte oder raffinierte Überwachungsapparaturen waren überflüssig; er konnte sich darauf beschränken, unauffällig zu beobachten. Weil Gilbertus sich völlig auf die Konversation mit dem letzten Serena-Butler-Klon konzentrierte, entging ihm Erasmus' Anwesenheit. Offenbar war sein menschliches Mündel von der Nähe des Klons regelrecht hingerissen, auch wenn der Roboter den Grund dafür nicht begriff. Nach zwanzig Jahren müsste Gilbertus der Bemühungen, sie zu einer würdigen Gefährtin zu formen, überdrüssig geworden sein. Der Klon war und blieb ein geistig schwaches Mängelexemplar; Rekur Van waren bei der Nachbildung ihres Körpers offensichtlich schwere Fehler unterlaufen.
Aber aus unerklärlichen Gründen behauptete Erasmus' Schützling, sich speziell diesem Klon gefühlsmäßig besonders verbunden zu fühlen.
In der Tat wirkte Gilbertus wie ein geduldiger junger Verehrer, während er Serena den Inhalt eines aufgeklappten Bildbands erläuterte. Sie schaute sich die Illustrationen an und schenkte einigen seiner Worte Aufmerksamkeit, bei anderen Gelegenheiten hingegen betrachtete sie die Blumen oder schaute den schillernden Kolibris nach, die umhersausten und sie ablenkten.
Hinter der Hibiskushecke wahrte Erasmus völlige Reglosigkeit, als könnte er ihr auf diese Weise vortäuschen, nur ein Gartenstandbild zu sein. Er wusste, dass der Serena-Klon nicht dumm war, sondern lediglich ... in jeder Hinsicht uninteressant.
Gilbertus berührte sie am Arm. »Sieh dir bitte das da an.« Serena richtete den Blick wieder auf das Buch, und er las ihr laut etwas vor. Im Laufe der Jahre hatte er ihr beharrlich das Lesen beigebracht. Serena hatte Zugriff auf jedes Buch und alle sonstigen Medien, die es in Corrins riesigen Bibliotheken gab, doch sie machte von dieser Möglichkeit nur selten Gebrauch. Meistens beschäftigte sich ihr Geist mit weniger bedeutsamen Angelegenheiten. Dennoch hatte Gilbertus die Anstrengungen nie aufgegeben.
Er zeigte dem Serena-Klon große Meisterwerke der Kunst. Er spielte ihr außergewöhnliche Symphonien vor und weihte sie in zahlreiche philosophische Denkmodelle ein. Serena interessierte sich mehr für amüsante Abbildungen und lustige Geschichten. Wenn der Bildband sie langweilte, ging Gilbertus wieder mit ihr im Garten spazieren.
Während er Gilbertus' provisorische Unterrichtsmethoden beobachtete, erinnerte sich Erasmus daran, dass er vor vielen Jahren für ein wildes, ungebärdiges Kind die gleiche Rolle erfüllt hatte. Die Aufgabe hatte extremen Aufwand und unermüdliche Hingabe erfordert, die in solchem Umfang nur Maschinen investieren konnten. Doch zum Schluss hatte sich Erasmus' Einsatz für Gilbertus Albans gelohnt.
Jetzt sah er, wie sein Schützling etwas Gleichartiges versuchte. Der Rollentausch an sich war ein recht bemerkenswerter Vorgang. Erasmus erkannte keine Fehler in Gilbertus' Vorgehensweise. Leider zeigten sich aber keinerlei äquivalente Ergebnisse.
Aufgrund medizinischer Untersuchungen wusste Erasmus, dass der Serena-Klon das volle biologische Potenzial ihrer Gene besaß, aber hinsichtlich der mentalen Kapazität große Mängel aufwies. Viel wichtiger war jedoch, dass sie keine bedeutenden Lebenserfahrungen gesammelt hatte, keine Zumutungen und Herausforderungen erlebt hatte, von denen seinerzeit die originale Serena geprägt worden war. Der Klon war die ganze Zeit viel zu behütet, viel zu umsorgt gewesen – und deshalb dumm geblieben.
Plötzlich kam Erasmus eine Idee, wie er die Situation bereinigen könnte. Auf dem Platingesicht des Roboters bildete sich ein breites Grinsen, während er sich durch die raschelnde Hecke schob und zu Gilbertus ging, der seinem Mentor zulächelte. »Hallo, Vater. Wir haben eben über Astronomie diskutiert. Heute Abend möchte ich Serena den Nachthimmel zeigen und ihr die Sternbilder erklären.«
»Das hast du schon einmal getan«, stellte Erasmus fest.
»Ja, aber heute Abend versuchen wir es noch einmal.«
»Gilbertus, ich habe beschlossen, dir ein vorzügliches Angebot zu machen. Es sind noch Serena-Butler-Zellen vorhanden, sodass wir zahlreiche weitere Klone schaffen können, die voraussichtlich dem jetzigen Exemplar überlegen sein dürften. Ich erkenne an, wie sehr du dich darum bemühst, diese Serena-Version auf dein Niveau zu heben. Es ist nicht deine Schuld, dass du keinen Erfolg hast. Darum schlage ich vor, dass ich dir als Geschenk einen neuen identischen Klon besorge.« Erasmus verbreiterte sein Flussmetall-Grinsen. »Wir ersetzen dieses Exemplar, damit du von vorn anfangen kannst. Bestimmt erzielst du das nächste Mal bessere Resultate.«
Gilbertus starrte ihn mit einer Miene des Entsetzens und der Ungläubigkeit an. »Nein, Vater, das kannst du unmöglich tun!« Er griff nach Serenas Arm. »Ich lasse es nicht zu.« Gilbertus zog Serena an sich und sprach leise auf sie ein, um sie zu beschwichtigen. »Keine Angst, ich beschütze dich.«
Obwohl er diese Reaktion nicht verstand, widerrief Erasmus schnell sein Angebot. »Es gibt keinen Anlass zur Empörung, Gilbertus.«
Gilbertus blickte den Roboter über die Schulter an, als hätte er an ihm schweren Verrat verübt, und führte den Klon rasch davon. Erasmus blieb nachdenklich zurück und versuchte das soeben Erlebte einzuschätzen.
Auch spät am Abend behielt der Roboter Gilbertus und den Klon unter Beobachtung, während sie vor der Villa im Freien zum Nachthimmel hinaufblickten. Obwohl die Triebwerksglut der ständig umherkreuzenden Kriegsschiffe den dunklen Hintergrund verfälschte, zeigte Gilbertus dem Klon Sternbilder, deutete ihre Umrisse an und erklärte anhand alter Sternkarten die Zusammenhänge. Serena wirkte fröhlich und entdeckte eigene Muster am Himmel.
Erasmus fühlte sich sonderbar beunruhigt, ja besorgt. Während er Jahre damit verbracht hatte, Gilbertus zu unterrichten, hatte er zumindest positive Hinweise auf die Fortschritte seines Zöglings erhalten, was ihm einen gewissen Lohn bedeutet hatte. Selbst die Original-Serena war mit ihrer scharfen Zunge und ihrer emotionalen Zankhaftigkeit für ihn eine ebenbürtige mentale Gegnerin gewesen.
Doch dieser Klon hatte Gilbertus überhaupt nichts Gleichwertiges zu bieten.
Ganz gleich, wie häufig Erasmus' Gedankengänge durch sein Gelschaltkreis-Gehirn kreisten, er konnte in Gilbertus' Haltung keinerlei Sinn erkennen. Ein hoch entwickelter autonomer Roboter müsste auch ein solches Rätsel lösen können. Aber obwohl er die beiden Menschen im Verlauf der Nacht stundenlang beobachtete, gewann er keine aufschlussreichen Erkenntnisse.
Was findet Gilbertus nur an ihr?